Es war ein kalter Novembermorgen. Nebelschleier lagen, wie von Riesenspinnen gewebte Tücher, über den Hängen des Nordpfälzer Berglandes. Die ersten Sonnenstrahlen hatten Mühe diese zu durchdringen. Es war ein ganz normaler Morgen, an dem man den Hund füttert, anschließend selbst etwas zu sich nimmt, wartet, bis sich der Nebel etwas gelichtet hat, sich umzieht, dem Hund das Geschirr umlegt und sich mit ihm auf den Weg macht.
Dennoch war etwas anders an diesem Morgen.
Ich bemerkte es zuerst gar nicht und es begann so, wie diese Dinge
eigentlich immer beginnen: klein und unscheinbar.
An jenem Morgen fuhr ich mit dem Auto an einem Schild vorbei - "Jagdbetrieb". Aha das alljährliche große Morden hat wieder begonnen, dachte ich mir. Kurz überlegte ich. Ich wollte eigentlich nicht in den Wald, sondern auf dem Rad-und Wanderweg bleiben. Dort muss der Jagdbetrieb bei Begehung eingestellt werden. Ich fuhr weiter. Ein Treiben wird in der Regel nicht auf einem öffentlichen Radweg durchgedrückt. Außerdem habe ich ein massives Problem damit, wenn man versucht mir vorzuschreiben, wann ich mich an welchem Ort aufzuhalten habe.
Am Ausgangspunkt unseres Spaziergangs angekommen, leinte ich Nanuk an.
Vor uns lagen ca. dreihundert Meter zu unserer linken und rechten
freies Feld.
Am Ende der freien, übersichtlichen Fläche erheben sich zur Linken
erste Hügel mit dichtem Waldbestand. Zur Rechten dann wieder
zweihundert Meter Wiese, die der Fluss vom gegenüberliegenden Ufer
teilt. Dort schließen sich ebenfalls wieder Wiesen an, welche vom
Bahndamm eingesäumt werden. Im Anschluss an den Bahndamm verläuft ein
kleiner Feldweg. Er wird begrenzt vom Damm der hinauf zur Bundesstraße
führt.
Oberhalb der bewaldeten Hänge zur Linken schließen sich wieder Äcker
an, welche an ein größeres Waldgebiet angrenzen. Dort oben, ganz weit
weg, hörte man sie Brüllen und schreien und ihren Hunden Befehle
zurufen. Ab und zu fiel ein Schuss.
Ich dachte noch "nein Nanuk bleibt an der Feldleine, wenn da irgendwas
den Waldhang runterkommt ist er weg!"
So schlenderten wir eine Weile unseres Weges. Als sich Nanuk
unvermittelt umdrehte, sich in schönster "Akitapose" mitten auf dem
Radweg postierte und ein warnendes "Wuff" ausstieß. Ja- tatsächlich -
er meldete mir ein herannahendes Auto.
"Mitten auf dem Radweg" dachte ich noch kopfschüttelnd.
Der Fahrer des Autos war ein Schulkamerad von mir, der seinerseits mit
seinem Hund Spazieren gehen wollte.
Er hatte uns von weitem gesehen und kam nun hierher gefahren, damit
Benno, sein eigener Hund und Nanuk zusammen Spielen konnten. "Machst
du ihn denn nicht ab? - Warum muss Nanuk denn an der Leine bleiben?"
Wurde ich gefragt. Ich erklärte, weshalb ich es für besser hielt Nanuk
an der Feldleine zu lassen. Zweimal verhedderte sich die
Lebenspartnerin meines Schulkameraden in der Leine, während dieser mich
bearbeitete, Nanuk doch los zu machen.
"Die können so gar nicht richtig spielen" und "komm wir gehen rüber
auf die Wiese, Richtung Fluss. Wenn da was den Waldhang runterkommt hat
man genügend Zeit zu reagieren". Redete er auf mich ein.
Ich weiß heute noch nicht, was mich da damals geritten hat, vielleicht war es auch Satan selbst, der nun Regie führte...
Ich rief Nanuk zu mir her, nahm den Bolzenhaken in die Hand, zog den Bolzen mit einem flauen Gefühl in der Magengrube zurück und trennte die Leine vom Geschirr begleitet von den Worten: "Freundchen - wehe, wenn du mich linkst....."
Wir liefen eine kurze Strecke, waren im Gespräch. Ich ließ Nanuk nicht aus den Augen. Ich konnte ihn Verbal sehr gut auf dieser Seite der großen Wiese halten. Die Hunde tollten ausgelassen umher. Indessen näherte sich das Schicksal, noch unsichtbar, mit der unaufhaltbaren Wucht einer aufziehenden Gewitterfront.
Aus dem Gespräch heraus, ganz unvermittelt schrie mein Schulkamerad: "Verdammt - eine Wildsau!" Mein Blick hastete zum Waldhang hin. Tatsächlich sie war von unseren Blicken unbemerkt diesen hinuntergerannt und Galoppierte nun auf die offene Wiese hinaus. Sie bewegte sich auf einer parallelen Linie zu den noch Spielenden Hunden, in Richtung Fluss. Das arme verängstigte Tier verspürte Todesangst.
Die beiden Hunde hatten sie noch nicht bemerkt. Ich hatte noch etwa 100 Meter Zeit. "Nanuk komm her" rief - nein, schrie ich. Er reagierte mitten aus dem Spiel heraus, sah mich an und drehte sich in meine Richtung.
Ich hoffte noch, dass das Wildschwein abdrehen würde aber eine Wildsau in dieser emotionalen Verfassung macht keine Umwege.
Wie erwähnt, befand sie sich auf einer parallelen Linie zu den Hunden
und als sie auf gleicher Höhe angekommen war, rannte sie in einem
Abstand von weniger als 10 Metern an diesen vorbei. Dies geschah in dem
Moment, als Nanuk ansetzte um zu mir zurück zu kommen.
Einen Sekundenbruchteil nur schien er irritiert, stockte, um dann die
von mir erteilte Anweisung zu vergessen und sich, für ihn in diesem
Moment, wichtigeren Dingen zuzuwenden.
"Wow, was'n das für'n Ding" schien er noch zu denken, um dann mitsamt
seinem Spielkameraden die Verfolgung aufzunehmen. 100 Meter bis zum
Fluss! Auf den das Trio zuraste.
Ein groteskes Bild, welches sich dem Zuschauer hier bot.
Ein Wildschwein auf der Flucht mit zwei Hunden in der Verfolgung.
Über dieser Szene lag der dräuende Morgennebel.
Die Hunde gehorchten jetzt nicht mehr.
Ich schrie aus Leibeskräften: "Nanuuuk - Nein- Neeeiiin" und "komm her"
Nun - die hundeerfahrenen unter Ihnen, geneigte Leser, werden sich nun
fragen: schreien - in dieser Situation?
Weiß er denn nicht, dass dies ein Anfeuern der begonnenen Jagdsequenz
bedeutet?
Doch ich wusste es aber ich schrie.....aus Leibeskräften. Ich schrie
meine ganze Angst und meinen Frust hinaus. Ich schrie eben, weil ich ja
sonst nichts tun konnte. - Außer - Laufen, ja, Laufen als ginge es um
mein Leben.
Vor meinem geistigen Auge stürzte ich mich, unten am Flussufer, mit
einem Hechtsprung, auf Nanuk, bekam ihn noch im Geschirr zu fassen,
bevor er ins Wasser sprang.
Wunschdenken war das - nicht mehr.
Das Wildschwein hatte jetzt den Fluss erreicht und sprang ins Wasser.
Benno sofort hinterher. Nanuk zögerte den Bruchteil einer Sekunde, dann
sprang auch er. "NEIN; NANUK - NEEEEIIIIN, NANUUUUK!" Verdammt der
Saukerl war so im Trieb, dass er mich nicht hörte.
Mist ich war zu langsam.
Die Wildsau entstieg den Fluten, danach die beiden Hunde.
Nanuk genau in dem Moment, als ich am gegenüberliegenden Ufer ankam.
Weiter ging die wilde Hatz........
Benno voran, - noch, - Nanuk immer weiter aufholend und plötzlich den
Jagdgefährten und die Sau überholend. Woher hatte er diese
Schnelligkeit? Ich hatte meinen American Akita noch niemals zuvor so
schnell Laufen sehen.
Nanuk stellte die Sau nun ein erstes Mal. Auf freiem Feld.
Benno war dies nun wohl zu suspekt und er drehte ab, zurück zum
Flussufer und über den Fluss zu seinem Herrn.
Die Sau wich dem Drängenden Hund aus. Sie hatte Raum genug, um zu
fliehen. Aber etwas Fremdes, ein archaischer Trieb, hatte nun von
meinem Hund Besitz ergriffen.
Ein Eisiger Schauer lief über meinen Rücken.
"Verdammt ich muss da rüber" schrie ich meinem Freund zu. Er rief mir
noch zu, dass er mit dem Auto über den nächsten Ort zur Bundesstraße
fahren würde, um dort auf uns zu warten. Ich hörte es zwar, aber war
schon dabei, mich auszuziehen für die bevorstehende Flussüberquerung.
Nun, als Wassersportler habe ich im Prinzip nichts gegen
Flussüberquerungen, aber Anfang November??
Ich entkleidete mich nun bis auf meine Unterhosen. Ich packte die
Klamotten in meine Jacke und verschnürte alles mit dem Ärmeln.
So stieg ich in den Fluss. Das Wasser war Kalt, der Fluss hatte um
diese Jahreszeit Strömung und im Sommer habe ich immer
Wassersportsandalen an. Mit nackten Fußsohlen tastete ich mich
vorsichtig weiter, doch nicht zu vorsichtig, denn ich wollte ja zum
anderen Ufer hinüber.
Was ich dann sah, ließ mich vergessen, wo ich mich momentan befand. Ich spürte nicht die Eiseskälte und auch nicht das Zerren der wellen an meinem Körper.
Nanuk hatte die Sau am Hang des Bahndammes gestellt und versuchte sie dort zu halten. Der Hang ist von Buschwerk eingesäumt. Die Sau zog sich zurück in die Büsche, um so eine bessere Deckung haben zu können. Nanuk drängte nach.
"Du musst hier bleiben, ich weiß nicht weshalb, aber ich muss dich hier festhalten!"
Er schnappte nach ihr und ich hörte sie Quieken.
Jetzt brach sie seitlich durch das Buschwerk und setzte die Flucht
fort, zum Damm der Bundesstraße hin. Nanuk sofort hinterher. Dieser
Hang ist nur spärlich bewachsen und gewährt freie Sicht.
Dort nun stellte er das Tier ein letztes Mal. Bei jedem Versuch
auszubrechen verstellte er dem Wild den Weg.
Die Amerikaner sagen über dem American Akita: er hat den Kopf eines Bären, das Herz eines Löwen und die Gewandheit einer Katze!
Nun die ersten beiden Zuordnungen hätte ich ja jederzeit unterschrieben. Aber die Gewandtheit einer Katze? Nein unser American Akita nicht. Wer den manchmal ach so Schwermütig vor sich hintrottenden Hund kennt traut ihm so etwas ja auch nicht wirklich zu.
In diesem Moment stieß das Wildschwein zu. Ich hörte ein überraschtes
Jaulen.
Nanuk sprang senkrecht hoch, drehte sich über dem Wildschwein um 180°
und kam auf der anderen Seite, genau an der Flanke des Wildes zum
Stehen. Ein jagdlich geführter, ausgebildeter American Akita hätte dem
Tier nun die Flanke aufgerissen.
Haben Sie schon einmal einen Großen Hund, welcher 50kg. wiegt gesehen,
der solches vollbracht hat? Ich, bis zu diesem Zeitpunkt nicht.
Heute würde ich auch ohne zu Zögern die dritte Zuordnung unterschreiben. Zumal mir unser Hund danach des Öfteren solche Kabinettstückchen zeigte.
"Wenn du das hier überlebst, dreh' ich dir eigenhändig den Hals um", dachte ich bei mir.
Ich wurde von der Kälte des mich umspülenden Wassers in die
Wirklichkeit zurückgeholt. Ich tastete mich Meter für Meter im
eiskalten Fluss vorwärts.
Mein Kleiderbündel hielt ich über meinem Kopf, um es vor Nässe zu
schützen.
Am anderen Ufer angekommen, musste ich nur noch einige große Steine
Überwinden.
In dem Moment, als ich mein Bündel in die Böschung warf, glitt ich auf
einem Stein aus und mein Wurf war infolgedessen zu kurz. Der Packen
rollte zurück, ins Wasser. Es dauerte etwas, bis ich zu dem mir
zutreibenden Bündel kam.
Nun, es fällt sicher nicht schwer sich vorzustellen, dass der ganze
Kram nun durchnässt war.
Das Wildschwein rannte nun zur Bundesstraße hinauf , Nanuk im Gefolge.
Ich hörte, immer noch im Fluss stehend, wie Autos ihre Fahrt verlangsamten und hörte gepeinigte Reifen Schreien, als sie allzu abrupt verzögert wurden.
Ich quälte mich zum Ufer, entstieg den Fluten, in Unterhosen und einem
Packen durchnässter Wäsche. So stand ich nun auf dem Acker. Ich beeilte
mich in meine Kleider zu kommen.
In diesem Moment sah ich Nanuk wieder die Strasse Überqueren und etwa
100Meter weiter linker Hand zu mir den Acker Entlanglaufen.
Er schien verunsichert, abwartend, bis er zuordnen konnte, wie ich
drauf bin.
Vergessen waren meine düsteren Gedanken und meine Mordgelüste sowieso
nur im Zorn vorgeschoben.
Ich rief meinen Hund zu mir, mit der freundlichsten Stimme zu der ich
im Moment, zitternd vor Kälte, im Stande war.
Nanuk kam, zwar langsam und verhalten, aber er gehorchte jetzt wieder.
Ich sah ihn mir an, untersuchte ihn kurz. Er schien unversehrt zu
sein.
Dem Wildschwein war ebenfalls nichts geschehen, ich sah es in den
Waldhang jenseits der Bundesstrasse entschwinden.
In diesem Moment hörte ich von der Haltebucht meinen Freund nach mir
rufen.
Wir mussten hier weg!
So stiegen wir ins Auto ein, vollkommen durchnässt.
Als wir den Schauplatz noch einmal im Vorbeifahren sahen, legte sich
über die Felder, den Fluss und das geschehene das stille, graue Tuch
des dräuenden Morgennebels.
Ruhe und Frieden waren nun wieder in die Flussniederung eingekehrt.
Später dann stellte ich fest, dass ich Nanuk's Bringsel verloren hatte.
Ich hätte mehr verlieren können, an diesem kalten, Nebeligen Novembermorgen.
by Mathias Kahlenberg
© Design und Webhosting Olaf Bosch